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Dialog: Warum gibt es immer mehr Schülerinnen und Schüler mit der Diagnose "geistige Behinderung"?

Peter Lienhard, Hans-Rudolf Bischofberger

Abstract


Ich danke dir, dass ich mit dir per E-Mail in einen Dialog treten darf, dessen Thema wohl nicht nur uns beide, sondern viele Fachpersonen, Eltern und Behördenmitglieder in der gesamten Schweiz beschäftigt: Der Anteil derjenigen Schülerinnen und Schüler, die als geistig behindert diagnostiziert werden, nimmt dramatisch zu. Das ist insofern erstaunlich, weil das Schwellenkriterium "IQ unter 75" seit über 50 Jahren dasselbe geblieben ist. Das Phänomen der stetigen Zunahme dieser Diagnose ist aber nicht ganz neu: Du erinnerst dich bestimmt an die Studie aus dem Jahr 2002, an der ich mitgearbeitet habe. Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich wollte wissen, weshalb der Anteil der Kinder mit einer geistigen Behinderung zwischen 1989 und 2000 um rund 40 % angestiegen ist. Die Erkenntnisse, die wir im Rahmen dieser Studie herausarbeiten konnten, haben den Nebel nur bedingt lichten können. Zwar konnten wir nachweisen, dass der Anstieg teilweise damit zu tun hatte, dass einzelne Sonderschulen bewusst "weichere" Kriterien für eine Aufnahme praktizierten - und wo ein Angebot im Sonderschulbereich ist, wird es als Ventil für die Regelschule auch genutzt. Auch haben wir belegt, dass vermehrt Kinder mit einer komplexen Symptomatik (Entwicklungsverzögerungen, kombinierte Lern- und Verhaltensprobleme) die Diagnose "geistig behindert" erhielten und dass Frühgeborene überproportional oft von diesen diffusen, komplexen Störungsbildern betroffen sind.

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